Kaum zu fassen, dass es wenige Flugstunden von Deutschland entfernt dieses Land gibt, das einzige Europas, das es auf die Liste der „unbeliebtesten Reiseländer der Welt“ geschafft hat. Auf dieser Reise nach Moldawien stelle ich fest, dass dies völlig zu Unrecht ist. Moldawien ist zwar arm und mit allerlei Problemen beladen, bietet aber auf liebenswürdige Weise immer wieder ganz unerwartet Überraschungen und zieht seine wenigen Besucher in seinen Bann. Seine kulturelle Identität erhält dieser Landstrich durch eine Überlagerung verschiedenster ethnischer, kultureller und geschichtlicher Einflüsse, in erster Linie aus den Nachbargebieten Rumänien und Russland. Doch auch türkische und orientalische Einflüsse sind in Architektur, Küche und Lebensart nicht zu verleugnen, genauso wie jüdische, ukrainische, deutsche, armenische sowie die Einflüsse der Sinti und Roma. Und doch ist Moldawien viel mehr als die Summe aus all diesen.
Chişinău, eine fast unbekannte Großstadt
Unsere Reise nach Moldawien beginnt in der Hauptstadt. Chişinău (etwas mehr als 530 000 Einwohner) verdient den Namen Großstadt, zumindest nach Ost-Maßstab. Es gibt große Boulevards, schöne Gebäude und einige weniger schöne, im russisch-kommunistischen Stil. Unser Hotel liegt sehr zentral und die Sicht aus den oberen Stockwerken ist einfach toll. Wir fahren durch die Stadt mit dem Trolleybus und bezahlen einer Frau in einer Schürze umgerechnet 10 Cent pro Fahrt.
Es gibt Bars und Kneipen und die jungen Menschen sehen wie überall auf der Welt aus, inklusive des obligatorischen Smartphones in der Hand. Es gibt große Einkaufszentren, wo man alles Mögliche kaufen kann, Kneipen und Coffee-Shops. Das Essen (auch im guten Restaurant) ist für einen sehr günstigen Preis zu haben. Auf dem Markt gibt es noch richtig schönes Obst und Gemüse. Alle Menschen sind unglaublich freundlich. In einem der ärmsten Länder Europas rennt uns ein Mann mit einer Tüte voller Kirschen hinterher. Er will sie uns einfach schenken….
Folgendes sollte man in Chişinău nicht verpassen:
1. Auf dem Stadtrundgang den Marktplatz besuchen und unbedingt von dem leckeren Obst und Gemüse naschen. Hier schmecken die Tomaten noch nach Tomaten, die Kirschen nach Kirschen…
2. Den wunderschön renovierten Bahnhof besuchen. Sehenswert ist auch eine alte Lok in den Nationalfarben Moldawiens. Bemerkenswert ist zudem die Ruhe. Hier fahren vier, oder vielleicht fünf Züge am Tag und zwischen den Abfahrten ist einfach niemand hier zu sehen (außer zwei Arbeitern heute, die den Belag auf dem Gleissteig reparieren).
3. Hinter dem Bahnhof kommt man über eine Brücke zum Secondhandmarkt. Hier kann man mit etwas Glück für wenige Cents ein FC Bayern T-Shirt ergattern, vielleicht aber auch einen schön geflochtenen alten Gürtel, der die letzten Jahrzehnte im Schrank einer Oma verbracht hat und nun wieder nach einem neuen Besitzer sucht.
4. Das ethnografische Museum mit dreisprachig beschrifteten Exponaten. Auf einer Zeitreise vom Anbeginn der Erde bis heute kann man die Entwicklung Moldawiens verfolgen. Viele Millionen Jahre war es Teil des Sarmatischen Meers (man kann bis heute noch Muscheln in Moldawien längst trockenen Höhlen sammeln). Dann die Entwicklung durch die bewegte Geschichte und wie die Menschen gelebt haben. Positiver Nebeneffekt: ein Teil der Ausstellung ist unten im Keller und es ist dort sehr angenehm, verglichen mit der Hitze draußen…
5. Der Stadtteil Botanikum: Chişinău hat sehr viele Grünanlagen und einen alten sowjetischen Freizeitpark mit einem Riesenrad, Autoskooter und einer Spielhalle mit fast schon antiken Geräten. Auch der wunderschöne botanische Garten befindet sich in der Nähe, sowie mehrere Seen und nette Lokale am Wasser.
Höhlenklöster und Burgen
Das ganze Land ist sehr grün, wie wir am nächsten Tag mit eigenen Augen sehen können. Unser Fahrer manövriert unseren Bus sicher aus der Stadt und auf der Landstraße in Richtung Norden.
Moldawien hat eine lange christliche Tradition. Bereits im 13. Jahrhundert siedelten sich Mönche und Eremiten in den Höhlen von Tipova an. Wir steigen den Hang hinab. Von oben hat man eine atemberaubende Aussicht über den Nister und das Stück Land jenseits davon, wo wir in den nächsten Tagen sein werden. Das Kloster auf dem Berg ist schön farbenfroh bemalt. Wir Frauen müssen Kopftücher anziehen, die Männer müssen ihre Kopfbedeckung abnehmen, wenn sie eine Kirche betreten (das ist Tradition in der orthodoxen Kirche). Es ist Sonntag und die Frauen des Dorfs sitzen im Schatten.
Das Weiße Haus und das Bolschoi Theater
In Soroca, unserem nächsten Ziel, kann man die imposante Burg besichtigen. Sie wurde von dem hiesigen Nationalhelden Stefan dem Großen ab dem Jahr 1499 aus Holz erbaut, später von seinem Sohn Petru Rares aus Stein fertig gestellt, als Verteidigung gegen die Invasoren. Die Burg wurde liebevoll restauriert und ist in einem guten und sehenswerten Zustand. Nicolai, der Guide, erzählt uns eloquent über die Geschichte und diverse Anekdoten von damals.
Später spazieren wir durch das Roma-Viertel. Der Friedhof, wo auch der König begraben liegt, ist fröhlich. Hier machen die Menschen Picknick am Grab und feiern mit den Toten. Aber auch die Häuser der Lebenden sind unglaublich: wer auf engstem Raum das Weiße Haus (im Maßstab 1:2), Bolschoi Theater oder andere Prachtbauten als Wohnhäuser sehen will, ist hier richtig. Die Menschen sind auch hier sehr freundlich und zeigen uns gerne, was sie haben. Einen Kirschbaum mit gelben Kirschen, goldene Einrichtung, eine Treppe nach nirgendwo. Die Hausfrau erzählt uns, was alles noch im Haus renoviert werden muss.
Wir essen zu Mittag im Rosengarten (Villa Roz). Das Essen ist simpel und sehr gut, der Wein geht irgendwie nie aus. Aber wir müssen uns nochmal aufraffen. Es geht zu Fuß entlang des Flusses Raut Richtung Orheiul Vechi: ein archäologischer Fundort, ein historisches Siedlungsgebiet, ein kulturelles und ein landschaftliches Schutzgebiet südöstlich der Stadt Orhei. Oben steht ein neues Kloster, einige Meter weiter, unter dem Berg, ein altes. Auch hier gibt es Muscheln aus dem alten Sarmatischen Meer, und wenn man eine davon in ein Loch in der Wand einsetzt, kann man sich etwas wünschen. Später spazieren wir durch das Dorf Trebujeni und kommen am Dorfladen vorbei, fünf Minuten bevor er schließt. Es gibt kaltes Bier, Radler und Limo und eine lustige Konversation in mehreren Sprachen mit zwei der Dorfbewohner, die gerade im Schatten vor dem Laden sitzen. Und wenn ich mir das eine oder andere Gesicht aus der Reisegruppe anschaue, glaube ich, dass das mit dem Wunsch gut funktioniert hat.
Transnistrien und Gagausien: Reisen in Paralleluniversen
Am nächsten Tag geht es nach Transnistrien. An der Grenze müssen wir unsere Pässe zeigen und bekommen ein Visum für zehn Stunden in der Form eines mehrsprachigen Tickets. Das ist das einzige, was hier mehrsprachig ist. Für den Rest des Tages hört man überall nur Russisch, wenn auch manche Waren im Supermarkt noch in anderen Sprachen beschriftet sind. Ein völlig eigenes, skurriles Staatsgebilde voller Überraschungen, das von niemandem, nicht einmal von Russland selbst, anerkannt wird – und doch seit 24 Jahren existiert. Dazu passt auch gut, dass hier das Schloss Bender steht. Dort kann man die Kugel bewundern, auf der der Baron Münchhausen nach Krim und wieder zurückgeflogen ist.
Die Beziehung zwischen Russland und Transnistrien ist kompliziert (mehr dazu hier). Mir kommt es wie eine unerwiderte Liebe vor. Nichts würde die Transnistrier mehr freuen, als von Russland anerkannt oder gar ein Teil davon zu werden. Russland allerdings ignoriert diesen kleinen Streifen Land. Hier sieht es nicht wie im Rest Moldawiens aus, nicht mal wie in Russland, sondern wie auf einem anderen Planeten. Wir essen zu Mittag in der Kantine des Busbahnhofs. Die Wand ist mit roten Flaggen dekoriert. Im Hintergrund läuft ein Fernseher, es ist ein englischer Krimi ohne Ton.
Die breiten Straßen sind sehr sauber und es fahren nur wenige Autos. Ein ewiges Feuer (durch russisches Gas am Leben erhalten) brennt Tag und Nacht, nahe an einem Monument in Form eines Panzers, und bewacht von einer Lenin Statue auf der anderen Straßenseite. Oft sehen wir den Hammer und Sichel, die ich nach fast 30 Jahren beinahe vergessen habe. Nur das Wifi-Zeichen und auch das mobile Internet (das Netz ist besser als mancherorts in Deutschland) zeigen, dass wir in der Gegenwart sind.
Das Land wird von den „Sheriffs“ regiert: ein Brüderpaar, das Tankstellen, Einkaufszentren und ein riesiges Stadion gebaut hat, überall ein Sheriff-Stern als Markenzeichen. Ich komme mir vor, wie in einem großen „Freizeitpark des Kommunismus“, zumal man im Buchhandel in Tiraspol nicht nur ein Porträt Putins oder des einen oder anderen lokalen Politikers kaufen kann, sondern auch eins von Stalin. Vor dem Gebäude des „Obersten Sowjets“ wacht eine Büste von Lenin. Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele ich bisher gesehen habe. Ein erfreulicher Unterschied zu den „alten Zeiten“ sind die vollen Supermärkte und Cafés, wo man leckeren kalten Kaffee („Frappé“) oder Kvas bekommt, sowie aus vielen Sorten Kuchen auswählen kann. Um auf den gewünschten zu zeigen, bedarf es auch keiner Russischkenntnisse. Alles kostet unglaublich wenig. Am Ende des Besuchs in Tiraspol besuchen wir den lokalen Schnaps-Outlet, wo wir zehnjährigen Brandy für umgerechnet einen einstelligen (!) Eurobetrag ergattern können. Danach geht es aufs Land, wo wir ein altes Theater in einem Park besuchen. Alles sieht aus, wie einer Hollywood-Kulisse entsprungen. Von der anderen Straßenseite beobachtet uns unbewegt eine Lenin Statue.
An einem anderen Tag geht es nach Gagausien. Das autonome Gebiet hat eine vordergründig ähnliche, und trotzdem ganz andere Geschichte (mehr dazu hier). Hier wird auch viel Russisch gesprochen und außerdem Gagausisch, eine mit dem Türkischen eng verwandte Sprache. Die „Hauptstadt“ Comrat hat etwa 25 000 Einwohner, die sich an diesem Tag vermutlich alle auf dem Markt befinden. Der Markt ist eine bunte Mischung von Allerlei, es gibt hier nichts, was es nicht gibt, von Unterhosen Made in China über Batterien bis hin zu tiefroten, sehr leckeren Erdbeeren. Im Museum in Besalma erfahren wir viel über die Geschichte und Traditionen der Gagausier.
Später geht es zum Mittagessen in einem Prachtsaal. Beim anschließenden Spaziergang durchs Dorf kommt man an Enten und Gänsen, einer alten Mühle und vielen Maulbeerbäumen vorbei. Die Maulbeeren sind reif und sehr süß.
Essen und Trinken
Wenige Kilometer von Chişinău entfernt liegt die Ortschaft Milestii Mici. Ein Dorf wie viele andere, möchte man meinen, wenn es hier nicht einen riesigen Weinkeller auf insgesamt 55 unterirdischen Kilometern gäbe. In unzähligen Weinfässern reifen fantastische Weine, derzeit gibt es etwa zwei Millionen Flaschen dort. Die anschließende Weinprobe wird begleitet von Musik und reichhaltigem Essen. Am Ende des Besuchs kann man sehr gute Weine für sehr wenig Geld auch käuflich erwerben. Nur die Zollbestimmungen für die Einfuhr von Alkohol nach Deutschland sollte man genau lesen…
Am letzten Abend gehen wir nochmals gemeinsam essen. Wir „begnügen“ uns heute mit den reichhaltigen Vorspeiseplatten, wir sind noch satt vom Mittagessen.
Das Essen in Moldawien ist reichhaltig, gut, oft mit viel Fleisch. Es gibt aber auch genug vegetarische Alternativen – hier einige:
- Placinte: lange Blätterteigrollen mit verschiedensten Füllungen. Ich liebe die mit Kohl, aber auch die mit Branza (Käse, meistens vom Schaf) und Äpfeln schmecken hervorragend.
- Sarmale: Kohl- oder Sauerkrautrouladen, traditionell gefüllt mit Hackfleisch. Man kann sie allerdings auch vegetarisch oder vegan bekommen, wenn die Füllung aus Gemüse und/oder Pilzen besteht.
- Mamaliga cu branza si ou: ein fester Maisbrei (ähnlich Polenta), der mit einem Faden geschnitten wird. Die Beilage sind „Branza“ (Käse) und Eier.
- Auberginenaufstrich (Salata de Vinete): eins meiner Leibgerichte. Als ich noch mehr Zeit hatte zu kochen, habe ich das öfter mal gemacht. Ein sehr einfaches Rezept gibt es hier.
- Coltunasi: eine Art süße Maultaschen mit Butter und Käsefüllung.
Der Kellner im Hemd der Nationaltracht hat ein breites Grinsen auf den Lippen. Während wir eine sehr spannende Woche hier verbracht haben, hat das Land noch spannendere Zeiten erlebt. Unbemerkt von der westlichen Öffentlichkeit haben Demonstrationen und das Wohlwollen aus Russland und der EU bewirkt, dass die bisherige Regierung zurückgetreten ist und der lokale Oligarch sich ins Ausland abgesetzt hat. Es herrscht Aufbruchsstimmung in Moldawien.